Juli 2000

Abteilung für Information und Internationale Beziehungen der Tibetischen Regierung-im-Exil, Dharamsala, Indien

Zerstörung der tibetischen Kultur durch eine neue sozialistische Zivilisation

Am 22. Juni veröffentlichte Chinas Staatsrat ein Weißbuch zu Tibet, in dem von großem Fortschritt auf dem Gebiet der Kultur, Religion und Bildung die Rede ist. Es ist leicht durchschaubar, daß dieses Weißbuch nichts als ein weiterer Versuch der Chinesen ist, ihre repressive Politik des kulturellen Völkermordes in Tibet zu verheimlichen. Die "Zentrale Tibetische Verwaltung" in Dharamsala legt daher die folgenden Tatsachen zur Lage in Tibet vor:

Gliederung
  1. Einführung
  2. Erhaltung der alten tibetischen Manuskripte und kulturellen Kunstgegenstände ist eine reine Show
  3. Förderung einer "neuen sozialistischen tibetischen Kultur", um die traditionelle tibetische Gesellschaft als finster, barbarisch und rückständig zu brandmarken
  4. Tibetische Studien werden benutzt, um die Interessen des tibetischen Volkes zu untergraben
  5. China bezweckt, die tibetische Sprache abzuschaffen
  6. Massenerziehung zur Vermittlung der chinesischen Kultur
  7. Die Massenmedien: ein Propaganda-Instrument des kommunistischen Chinas
  8. Schluß
Teil 1

Einführung

Tibet, eine unverkennbar eigenständige Nation mit einem reichen kulturellen Erbe, hat über 2000 Jahre schriftlich belegter Geschichte vorzuweisen und, wie archäologische Ausgrabungen ergaben, eine über mehr als 6.000 Jahre zurückreichende Zivilisation. Bereits in alten Zeiten, besonders seit der Einführung des Buddhismus im 7. Jahrhundert, entwickelte sich Tibet zu einem außergewöhnlichen Schatzhaus der Kultur.

Mit dem Beginn der zerstörerischen maoistischen Kampagnen im Zuge der "demokratischen Reformen" des kommunistischen Chinas ab 1958 wurde Tibet jedoch zu einer kulturellen Öde reduziert, in der nun sogar des Überleben der tibetischen Sprache in Frage gestellt ist. So bemerkte etwa der 10. Panchen Lama anläßlich der ersten Sitzung des chinesischen Institutes für Tibetologie 1988 in Peking: "Es ist eine Schande, sagen zu müssen, daß die tibetische Sprache in Tibet extra erlernt und angewendet werden muß. Das Land, das 1.300 Jahre lang ausgezeichnet mit seiner eigenen Sprache zurecht gekommen ist, hat sie nun innerhalb von nur zwei Jahrzehnten seit seiner Befreiung durch die Kommunistische Partei völlig verlernt. Deshalb müssen wir zur Förderung der tibetischen Sprache in Tibet aufrufen".

Dank der Bemühungen des 10. Panchen Lama und tibetischer Patrioten haben die Pflege der tibetischen Sprache und der schönen Künste seit 1980 in der bisherigen kulturellen Wüste Tibet eine gewisse Wiederbelebung erfahren. Trotzdem muß man sagen, daß das, was heute noch überlebt, nur ein Bruchteil und ein matter Abglanz dessen ist, was diese reiche kulturelle Fundgrube auf dem einstigen "Altar der Welt" barg.

Gewiß erfüllte die traditionelle gesellschaftliche Struktur in Tibet nicht alle Erwartungen und Ambitionen der breiten Bevölkerung. Jedoch bewahrte dieses 2,5 Mio. km2 große Land einen riesigen kulturellen Schatz, an dessen Schutz jeder spirituell gesinnte Tibeter beteiligt war. Der einzige Zerstörer dieses reichen Erbes ist China, und die Vernichtung geht immer weiter. Peking behauptet seit nunmehr 45 Jahren, der politische Repräsentant der Tibeter zu sein. Im 21. Jahrhundert erhebt es nun zusätzlich Anspruch darauf, auch der Beschützer der tibetischen Kultur zu sein.

Teil 2

Erhaltung der alten tibetischen Manuskripte und kulturellen Kunstgegenstände ist eine reine Show

Beginnend mit den "demokratischen Reformen" von 1958 entfesselte China eine Reihe ideologischer Kampagnen in Tibet, welche 99,98% der Klöster als Ruinen zurückließen. Insgesamt zerstörte das kommunistische China über 6.000 Tempel und Klöster zusammen mit ihren wertvollen Statuen und religiösen Kunstgegenständen, alten Handschriften, heiligen Schriften, Reliquien, Thangkas, Malereien usw. Die tibetische Religion und Kultur mit all ihren traditionellen Kostbarkeiten wurden als die "Vier Alten" gebrandmarkt und ihre Ausübung mit Verfolgung, Gefangenschaft, Folterung und Hinrichtung geahndet. Innerhalb von nur 20 Jahren seit dem Beginn der "demokratischen Reformen" wurde die tibetischen Zivilisation an den Rand der Auslöschung getrieben.

1987 leitete China ein gewisses Maß an Liberalisierung ein und gewährte minimale Zuschüsse für die Restaurierung von ein paar wenigen der bedeutenden historischen Denkmäler, wie etwa den Potala Palast des Dalai Lama, den Jokhang Tempel in Lhasa und die Hauptklöster Sera, Drepung, Tashilhunpo, Sakya, Kumbum, Labrang Tashikyil, Derge Gonchen, Chamdo Gon usw. Andere Klosterrenovierungen sind tibetischer Eigeninitiative, Arbeitsleistung und Geldspenden der Bevölkerung zu verdanken.

Genauso wie in China, gibt es heutzutage auch in Tibet. keine Religionsfreiheit. Nur Ritual-Praktiken wie Niederwerfungen, Anzünden von Butterlampen und Umschreitung von heiligen Bauwerken werden noch geduldet. Wenn Tibeter allerdings ihre lokalen Tempel und die von den chinesischen Ideologen zerstörten Mönchs- und Nonnenklöster wieder aufbauen wollen, müssen sie einen Antrag an die Regierung stellen, dessen Gewährung schwer zu bekommen ist. Tibetern unter 18 Jahren wird der Eintritt in eine monastische Gemeinschaft verwehrt.

In ganz Tibet werden Mönche und Nonnen gezwungen, Seine Heiligkeit den Dalai Lama, dessen Bilder heutzutage verboten sind, öffentlich zu verurteilen. Sie müssen ihre Loyalität zu Gyaltsen Norbu, dem von den Chinesen nominierten Panchen Lama, bekunden und sich von dem von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama anerkannten Gedhun Choekyi Nyima, dessen Aufenthaltsort und Zustand weiterhin unbekannt sind, abkehren. Übertretung der diesbezüglichen staatlichen Anordnungen hat Ausschluß aus den Klöstern, Inhaftierung, Folterung und in manchen Fällen sogar die völlige Schließung der Klöster zu Folge. Bis Ende 1999 wurden 11.409 Mönche und Nonnen aus ihren Institutionen ausgewiesen und etwa 20 Klöster geschlossen.

Damit der Staat seine Kontrolle besser ausüben kann, wird die Verwaltung der Klöster den sogenannten "Demokratischen Verwaltungskomitees" unterstellt. Darüber hinaus nisten sich noch chinesische Polizisten in den Klöstern ein. In allen Institutionen wird die Anzahl von Mönchen und Nonnen schwer eingeschränkt. Deren Hauptaufgabe ist es, als Attraktion für Touristen und Betreuer ihrer Klöster zu fungieren. Nonnen und Mönche haben keine Möglichkeit wie früher, ernsthaft ihre Religion zu studieren und zu praktizieren, weil sie gezwungen werden, an dem endlosen Unterricht zur "politischen Erziehung" teilzunehmen. Feierliche Klosterfeste werden in gewinnträchtige Veranstaltungen mit marktwirtschaftlicher Ausrichtung umgewandelt, wodurch sie ihre spirituelle Bedeutung gänzlich einbüßen.

Im Namen der Modernisierung fördert Peking die zeitgenössische chinesische Zivilisation und die chinesischen gesellschaftlichen Normen in Tibet. Als Folge davon weisen die tibetischen urbanen Zentren eine große Zahl von Bordellen, Diskos, Spielhöllen und Bierschenken auf.

Der Politik des Vandalismus in der Zeit vor der Liberalisierung fielen die meisten religiösen Statuen und klösterlichen Kunstgegenstände Tibets zum Opfer. Die paar wenigen Objekte, die Tibeter retten und verstecken konnten, wurden später den wieder errichteten Klöstern zurückgegeben. Daß die chinesische Regierung nun Besitz von ihnen ergreift und sich zum Beschützer der tibetischen Kultur aufspielt, ist in der Tat vergleichbar mit dem Fuchs, der den Hühnerstall bewacht.

Teil 3

Förderung einer "neuen sozialistischen tibetischen Kultur", um die traditionelle tibetische Gesellschaft als finster, barbarisch und rückständig zu brandmarken

"Die Kunst muß der Sache des Sozialismus zu Diensten sein", sagte Mao Zedong bei dem ersten Forum über Kunst und Kultur in Yanan. Und dies ist immer noch das Leitmotiv der kommunistischen Herrscher. Chinesische Intellektuelle verweisen gerne auf ihre "5.000 Jahre Han Kultur", um die kulturelle Rückständigkeit von Tibetern und anderen Minderheiten hervorzuheben. Dank dieser Einstellung sind chinesische Intellektuelle in Tibet auch davon überzeugt, daß es ihre Aufgabe ist, die tibetische Kultur zu reformieren, was ihrer Ansicht nach nur dadurch bewerkstelligt werden kann, daß sie zeigen, wie ungeheuer rückständig das tibetische Erbe ist. Die Kombination dieses intellektuellen Überlegenheitsgefühls mit dem politischen Programm der Regierung hat zu einer Reihe von Kampagnen in Tibet geführt. All diesen Umständen ist es zuzuschreiben, daß es nun zweierlei Kulturen in Tibet gibt: die traditionelle spirituelle Kultur der Tibeter und die von den Kommunisten geförderte ";Campus-Kultur", die weder tibetisch noch chinesisch ist. Während die traditionelle spirituelle Kultur als diejenige der Feudalherren gebrandmarkt wird, wird die "Campus-Kultur" als die Kultur des neuen, sozialistischen Tibets gepriesen. Obwohl die "Campus-Kultur" überall von der Grundschule bis zur Universität vermittelt wird, hat sie absolut keine Bedeutung für die Realität der tibetischen Gesellschaft.

Die Aneignung dieser seichten intellektuellen Kultur mag jemandem vielleicht helfen, als Poet, Literat, Übersetzer, Journalist oder Verwaltungsangestellter der Chinesen sein Dasein zu fristen, aber sie befähigt niemanden, etwas Konkretes zur Entwicklung der tibetischen Kultur beizutragen.

Was China als "tibetischen kulturellen Fortschritt" bezeichnet, läuft auf die Produktion und Verbreitung von Literatur, Filmen, Liedern usw. hinaus, die das neue, sozialistische Tibet preisen und das traditionelle Tibet als eine finstere, barbarische, brutale und rückständige Gesellschaft schmähen.

Teil 4

Tibetische Studien werden benutzt, um die Interessen des tibetischen Volkes zu untergraben

Chinas Weißbuch behauptet, in den tibetischen Studien seien allgemein und in der tibetischen Medizin ganz besonders große Fortschritte gemacht worden. Unserer Ansicht nach wurden die Grundlagen für die neuere Tibetologie-Forschung seit 1973 jedoch von Westlern unter aktiver Unterstützung durch die Bibliothek für tibetische Werke und Archive (Library of Tibetan Works and Archives) in Dharamsala gelegt. Das ungeheure wissenschaftliche Interesse, das westliche Institutionen und Gelehrte derzeit an tibetischen Studien zeigen, veranlaßte die chinesische Regierung, eigene weitreichende Forschungsstudien in Angriff zu nehmen. Aber Objektivität ist gewiß nicht das Ziel der chinesisch geförderten Forschungsarbeit in Tibetologie. Deshalb schadet sie auch den Interessen des tibetischen Volkes eher, als daß sie ihnen nützt.

Wissenschaftler in Tibet haben strenge Anweisungen, darauf zu achten, daß ihre Ergebnisse die chinesische Herrschaft in Tibet stützen. So brachte zum Beispiel die erste Ausgabe der Fachzeitschrift Bod-jong Shib-jung (1982) einen Artikel von Doje Cering, dem Vizeparteisekretär und Vorsitzenden der Regierung der Autonomen Region Tibet (TAR), worin die Grundregeln für die Forschungsarbeit in Tibet festgelegt werden. Er schreibt: "Wir glauben, daß der Marxismus-Leninismus und Maos Gedankengut der Kompaß sind, nach dem sich alle Wissenschaftler zu orientieren haben. Diese Gedanken sind die einzige Richtschnur für unsere Tibetische Akademie der Sozialwissenschaften." Weiter führt er aus, daß die Resultate aller Forschungsarbeiten in Tibetologie dem Anliegen der Einheit des Mutterlandes dienen müssen.

Besorgt über die Arbeitsweise der Tibetologen in Tibet schrieb Dungkar Lobsang Trinley in einer Ausgabe von Bod-jong Shib-jung 1985: "Es ist nicht wissenschaftlich, wenn im Namen von tibetischen Studien über Tibeter oder eine andere Minoritäten-Nationalität geforscht wird, um diese (in kleinere ethnische Gruppen) zu spalten." Aber einige Forscher des Forschungsinstituts für Minderheiten, so schreibt er weiter, tun genau dies. "Und wer sich dagegen wendet, wird beschuldigt, mit der Idee eines Großtibets oder eines lokalen Nationalismus zu sympathisieren."

Es ist daher ganz klar, daß der grundlegende Zweck der Tibetstudien der Chinesen derjenige ist, den tibetischen Nationalismus zu unterhöhlen und den Anspruch, Tibet sei ein unveräußerlicher Teil Chinas, zu erhärten.

Chinas Weißbuch stellt auch fest, daß die traditionelle tibetische Medizin neuen Aufschwung in Tibet erfuhr. Dabei verschweigt es allerdings, daß die alte Heilkunde-Tradition in Tibet ja gerade von der Chinesischen Kommunistischen Partei zerstört wurde.

Vor der chinesischen Invasion besaß Tibet viele medizinische Institute und traditionelle Heiler sowohl aus dem Laien- als aus dem Mönchstand, welche junge Ärzte/Pharmazeuten ausbildeten und sich um die gesundheitliche Versorgung der gemeinen Bevölkerung vor Ort kümmerten. Die tibetische Medizin blühte bereits in alten Zeiten, als die Dharma-Könige in Tibet herrschten. Im achten Jahrhundert bildete Yuthok Yonten Gonpo Tausende von tibetischen Ärzten und Pharmazeuten aus. Im elften Jahrhundert gründete der "große Übersetzer" Lotsawa Rinchen Sangpo eine Medizinschule in dem Kloster Tholing in der Provinz Ngari, Westtibet. 1643 richtete der fünfte Dalai Lama die Drophel-Ling Medizinschule in dem Kloster Drepung bei Lhasa ein, und 1695 ließ Desi Sangye Gyatso die Medizinschule Chakri Bedre Drophen Tana Ngotsar Rigje Ling bauen. 1916 ließ der 13. Dalai Lama das Institut für Tibetische Medizin und Astrologie in Lhasa einweihen, wozu er Studenten aus den verschiedenen Landstrichen und Klöstern Tibets aufnahm. Nach Studienabschluß wurden die meisten von ihnen zum Dienst in ihre jeweiligen Dörfer zurückgeschickt. In ähnlicher Weise beherbergten viele Klöster in Kham und Amdo medizinische Ausbildungsstätten.

Die tibetische medizinische Tradition wurde jahrhundertslang durch die Regierung und auch durch Privatinitiativen gefördert, erhalten und weiter entwickelt. 1959 bombardierte und zerstörte China jedoch das Chakri Bedre Drophen Tana Ngotsar Rigje Ling Medizininstitut in Lhasa. Noch heute sind die Ruinen auf dem Hügel, auf dem es einst stand, zu sehen.

Während der Kulturrevolution (1966-1976) wurde die tibetische Medizinwissenschaft als "abergläubisch und rückständig" gebrandmarkt. Viele berühmte Ärzte wurden diffamiert, in den "Kampfsitzungen" (thamzing) gedemütigt und in Arbeitslager eingesperrt. Ein prominenter Vertreter hiervon ist Amchi Jampa Thinley, der später rehabilitiert wurde und als einer der gelehrtesten praktischen Ärzte Chinas offizielle Anerkennung fand.

So war es also tatsächlich die chinesische Regierung, welche die traditionelle tibetische Medizin bis Anfang der Achtziger vernachlässigte und zerstörte. Auf der anderen Seite bemühte sich Seine Heiligkeit der Dalai Lama, diese Wissenschaft vom Heilen im Exil am Leben zu erhalten, indem er 1960 das Tibetische Institut für Medizin und Astrologie in Dharamsala eröffnete. Dieses Institut und seine Ärzte und Pharmakologen dienen als treibende Kraft zur Verbreitung des Wissens der tibetischen Medizin in Indien und in der ganzen Welt. Als internationale medizinische Kreise begannen, die Rolle und den Wert der tibetischen Wissenschaft vom Heilen für die alternative Medizin zu erkennen, revidierte die chinesische Regierung ihre Politik und ließ das Tibetische Institut für Medizin und Astrologie in Lhasa wieder erstehen. Das ist der Grund, warum tibetische Medizin und Pharmakologie in Tibet eine Neubelebung erfuhren.

Teil 5

China bezweckt, die tibetische Sprache abzuschaffen

Chinas Behauptungen, wonach sich die tibetische Sprache in Wort und Schrift "in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens in Tibet großer Anwendung erfreut" und "die tibetische Sprache durch das Gesetz geschützt wird", stehen in krassem Widerspruch zu der in Tibet herrschenden Wirklichkeit.

In Tibet ist man heute allgemein der Ansicht, daß Leute, welche die tibetische Sprache studieren, keine Zukunftsaussichten haben. In dem Buch "Gewaltige Geheimnisse für die Menschen des Schneelandes im 21. Jahrhundert" (hrsg. von dem Serthang Thekchen Choeling Kloster in Golok, NO Tibet 1996) schreibt Khenchen Jigme Phuntsok: "Tatsächlich ist die tibetische Sprache im heutigen Tibet wertlos. Wenn beispielsweise ein Brief mit einer auf Tibetisch geschriebenen Adresse abgesandt wird, dann wird er nicht einmal innerhalb Tibets seinen Bestimmungsort erreichen, geschweige denn außerhalb. Und was das Reisen anbelangt, so wird eine Person, egal wie gut sie Tibetisch lesen kann, den Busfahrplan oder ihre Sitzplatznummer auf der Fahrkarte nicht entziffern können. Selbst wenn man nach einem Krankenhaus oder Laden in der Kreiszentrale oder einer Stadt suchen muß, nützt einem die Kenntnis des Tibetischen nichts. Wer nur Tibetisch kann, wird es sogar schwierig finden, die täglich notwendigen Dinge einzukaufen. Wenn unsere Sprache in unserem eigenen Land nutzlos ist, wo wird sie dann noch von Wert sein? Wenn die Lage noch lange so bleibt, dann wird die tibetische Sprache eines Tages ausgelöscht sein."

Etwas weiter im Text schreibt er: "Selten gibt es in Tibet Schulen, an denen man die tibetische Sprache und Kultur erlernen kann... Außerdem haben es sich die Eltern angewöhnt, ihre Kinder nicht mehr zur Schule zu schicken, was daher kommt, daß in den Grundschulen eher Chinesisch als Tibetisch gelehrt wird. Selbst wenn die Schüler Chinesisch lernen und die Mittelschule absolvieren, haben sie in Tibet keine Berufsaussichten. Im Endeffekt hüten sie wieder das Vieh und arbeiten auf dem Feld. Es besteht natürlich auch eine geringe Chance, Tibetisch zu lernen. Aber die Eltern wissen, daß die tibetische Sprache im täglichen Leben unnütz ist, und deshalb sehen sie keine Veranlassung, ihre Kinder zur Schule zu schicken."

1987 erließ der Kongreß der "Autonomen Region Tibet" (TAR) eine Verordnung, wonach ab 1993 alle neuen Schüler der unteren Mittelschulstufe in Tibetisch unterrichtet werden müssen, und wonach 1997 bei den meisten Fächern an der oberen Mittelschulstufe und Oberschule ebenfalls Tibetisch das Unterrichtsmedium sein sollte. Aber diese Pläne wurden niemals verwirklicht. Schlimmer noch, im April 1997 gab es eine offizielle Bekanntgabe, daß die 1987 hinsichtlich der tibetischen Sprache beschlossenen Maßnahmen rückgängig gemacht werden. Der stellv. Sekretär der Kommunistischen Partei der "TAR" Tenzin sagte: "Die Entscheidung von 1987, wonach Jungen und Mädchen allein auf Tibetisch unterrichtet werden können, trägt nicht zu ihrer Entwicklung bei". Er umriß weiterhin die Politik von 1987 als "unbrauchbar und der Realität in Tibet widersprechend".

1989 wurden auf die Initiative des 10. Panchen Lama hin vier Versuchs-Klassen mit Tibetisch als Unterrichtssprache in einigen Oberschulen eingerichtet. Der Erziehungsausschuß der "TAR" bestätigte 1995 den Erfolg dieser experimentellen Klassen und forderte eine schrittweise Ausweitung des Unterrichts auf Tibetisch auf alle Oberschulen in ländlichen Gegenden. Die chinesische Regierung ließ dieses Projekt jedoch 1996 fallen, weil sie glaubte, es würde tibetisches Nationalgefühl aufkeimen lassen.

Der verstorbene Dungkar Lobsang Trinley, eine führende Persönlichkeit im kulturellen und intellektuellen Leben des modernen Tibets, der sogar von China als eine "nationale Perle" anerkannt wurde, war ein gewaltiger Verfechter der Förderung der tibetischen Sprache. Bis zu seinem Tod 1992 äußerte sich Dungkar immer wieder äußerst besorgt über das Dilemma der tibetischen Sprache. So sagte er einmal: "Wir sind an einem gefährlichen Punkt angelangt. In Tibet wird heutzutage die Zahl der Leute, die Tibetisch beherrschen, immer weniger, und dies trotz des erklärten Zieles der Minderheitenpolitik während der letzten 40 Jahre... Obwohl Tibetisch in allen Regierungsämtern, bei allen Sitzungen und der offiziellen Korrespondenz zur ersten offiziellen Sprache erklärt wurde, wird dennoch Chinesisch überall als Arbeitssprache verwendet."

Khenchen Jigme Phuntsok stellte fest: "In den Städten und Kreishauptstädten gibt es besorgniserregende Fälle, wo Leute kein Tibetisch mehr können, obwohl beide Elternteile Tibeter sind. Viele von ihnen haben ihre tibetische Eigenart verloren. Außerdem können die tibetischen staatlichen Angestellten kein reines Tibetisch mehr sprechen, und ein Fünftel oder zwei Drittel der Wörter, die sie verwenden, sind chinesisch. Deshalb können einfache Tibeter nicht verstehen, was sie sagen."

Teil 6

Massenerziehung zur Vermittlung der chinesischen Kultur

Es ist wahr, wie die Chinesen behaupten, daß es vor 1959 nur sehr wenige moderne Bildungsstätten in Tibet gab. Aber auf der anderen Seite besaß das Tibet vor 1959 Tausende von klösterlichen Einrichtungen, die als Zentren der Gelehrsamkeit für traditionelles Wissen galten und den Bedarf des Volkes an Bildung deckten.

Peking rühmt sich, in den letzten Jahrzehnten die wichtige Aufgabe der Förderung der Bildung der breiten Bevölkerung in Tibet auf sich genommen zu haben. Die Realität ist aber, daß dieses System der Volkserziehung ein Phänomen jüngeren Datums ist. Wegen der "demokratischen Reformen" und insbesondere wegen des Chaos und des Irrsinns der Kulturrevolution konnte das System der Erziehung der breiten Volksmasse erst Anfang der achtziger Jahre in Tibet Fuß fassen.

1980 führte China eine die "ethnische Minderheit" berücksichtigende Volkswirtschaftspolitik in Tibet ein als eine innenpolitische Strategie, um "Seine Heiligkeit den Dalai Lama zur Rückkehr nach Tibet" zu bewegen. Im Sinne dieser Politik wurden auch echte Bemühungen unternommen, um die Unterrichtseinrichtungen in Tibet zu verbessern. Dieses Unternehmen scheiterte jedoch an einem Mangel an Finanzierung. Was immer an Geldmitteln zur Verfügung stand, wurde meistens für den Aufbau der Marktwirtschaft, das Lieblingsprojekt des obersten Führers Chinas Deng Xiaoping, ausgegeben. Als Folge hiervon wurden zwischen 1980 und 1989 über 62% der Grundschulen in der "TAR" geschlossen, während die Anzahl der Schüler um 43% fiel (siehe: Statistisches Jahrbuch der TAR von 1995).

Im Mai 1980 stellte Yang Jingren, der Vorsitzende der Regierungskommission für die Belange Nationaler Minderheiten, fest, daß "alles in Übereinstimmung mit ethnischen und regionalen Gegebenheiten, statt mit vager Verallgemeinerung oder willkürlicher Einförmigkeit getan werden muß". In Wirklichkeit sind die Lehrpläne der Schulen jedoch so zugeschnitten, daß sie eher die Kenntnis der chinesischen als der tibetischen Kultur vermitteln.

1994 führte China dann die Schulpflicht für Tibet ein. Aber diese Erziehungspolitik kam dem tibetischen Volk nicht zugute, weil die Regierung die Verordnungen aus der Zeit nach 1984 nicht änderte, denen zufolge die Landbevölkerung ihre eigenen Grundschulen finanzieren muß mit nur geringfügiger Unterstützung durch die Verwaltung auf Kreisebene für größere Bauvorhaben und für Lehrergehälter. Da die Mehrheit der tibetischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten wohnt, waren die Tibeter dadurch benachteiligt und hatten keine Vorteile von der Politik der allgemeinen Schulpflicht.

Die meisten Tibeter konnten es sich nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Am 4. Juni 1994 gab der Vorsitzende der Regierung der "TAR" Gyaltsen Norbu zu, daß "ein Drittel der Kinder in der Autonomem Region Tibet es sich einfach nicht leisten kann, zur Schule zu gehen". Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Zeit von nach 1984 führten ebenfalls zu einer extremen Diskrepanz in der Erziehung zwischen Stadt und Land, weil die meisten staatlichen Schulen, die verhältnismäßig größere öffentliche Zuschüsse bekommen, in den urbanen Gebieten liegen, wo die chinesische Bevölkerung überwiegt.

Dies sind die Gründe, warum viele Tibeter sich gezwungen sehen, ihre Kinder den ganzen weiten Weg nach Indien zu schicken, um sie an Erziehungsanstalten in der tibetischen Exilgemeinde einzuschreiben. Einem Bericht des in Dharamsala ansässigen Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie zufolge flohen seit 1984 zwischen 6.000 und 9.000 tibetische Kinder und Jugendliche, um Aufnahme in Erziehungsanstalten in Indien und Nepal zu suchen.

Chinas Weißbuch behauptet, die Regierung der VR China habe von 1990 bis 1995 insgesamt 1,03 Mrd. Yuan investiert, um die allgemeine Erziehung in Tibet zu fördern. In Wirklichkeit wurde jedoch ein großer Teil dieses Budgets dazu verwendet, die Kosten der Ausbildung tibetischer Studenten in China zu decken, mit dem Ziel eine neue Generation von ideologisch richtig indoktrinierten tibetischen Kadern heranzuziehen. Die Verbesserung der Erziehungsmöglichkeiten in Tibet war nicht das Ziel dabei.

Chinas Weißbuch prahlt mit eindrucksvollen Statistiken über die Leistung seiner Regierung auf dem Bildungssektor in Tibet im Verlauf der letzten paar Jahrzehnte. Was das Weißbuch aber verschweigt, ist, daß die "Autonome Region Tibet" und die anderen tibetischen Gebiete Qinghai (Amdo) und Kham immer noch an unterster Stelle des Bildungsindex Chinas stehen, sogar noch unter Guizhou, der rückständigsten Provinz Chinas (China-Report über menschliche Entwicklung, 1997).

Kurz gesagt: Ganz gleich, wie viele Institutionen die chinesische Regierung in Tibet seit 1959 auf die Beine gestellt hat, das alles überragende Erziehungsziel für die Tibeter war immer schon, ihre politische Loyalität zu China zu festigen. Das kommt deutlich in der Rede des Parteisekretärs der "TAR" Chen Kuiyan vor der Konferenz für Volksbildung in der "TAR" in 1994 zum Ausdruck: "Der Erfolg unserer Erziehungsmaßnahmen liegt nicht in der Anzahl von Diplomen, die den Absolventen von Universitäten, Colleges ... und Oberschulen ausgegeben werden, sondern er liegt letzten Endes darin, ob unsere Absolventen gegen die Dalai Clique eingestellt sind oder ihr Herz ihr zuwenden und darin, ob sie unserem großen Mutterland und der großen Sache des Sozialismus loyal gegenüber stehen oder sich nichts daraus machen."

Teil 7

Die Massenmedien: ein Propaganda-Instrument des kommunistischen Chinas

Chinas Weißbuch rühmt sich der Gründung von "52 Zeitungen und Zeitschriften", Fernsehsendern, Radiosendern usw. in Tibet. Aber haben diese etwa die Freiheit, objektiv und unvoreingenommen Nachrichten und Meinungen zu verbreiten? Das nämlich ist der springende Punkt bei der Sache.

Wie in allen totalitären Staaten der Vergangenheit monopolisiert Peking die Massenmedien in Tibet und setzt sie als ein Propaganda-Instrument der KP ein, dessen einziger Zweck der ist, die Tibeter einer Gehirnwäsche zu unterziehen, um sie der chinesischen Herrschaft völlig untertan zu machen. Privatbesitz von Medien und Pressefreiheit sind in dem chinesisch-besetzten Tibet geächtet. Tatsächlich wäre es ja auch aussichtslos, Pressefreiheit von einer Regierung zu erwarten, die Menschen ins Gefängnis wirft und foltert, nur weil sie Plakate aufhängen oder politische Parolen rufen.

Überdies macht China, um sicherzustellen, daß seine Propaganda auch die gewünschte Wirkung hat, konzentrierte und systematische Anstrengungen, eine Mauer gegen das Einfließen alternativer Nachrichten und Meinungen aus der Außenwelt zu errichten. Audio-visuelles und gedrucktes Material mit Erklärungen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama sind in Tibet verboten, und ihr Besitz hat schon vielen Tibetern lange Haftstrafen eingebracht. Entsprechend investiert die chinesische Regierung eine Menge Geld, um die Radiosendungen in tibetischer Sprache von Voice of Tibet aus Norwegen und Voice of America und Radio Free Asia aus den USA zu stören.

Dazu kommt noch, daß die tibetische Obrigkeit in widersinniger Weise auf das Chinesische als die vorherrschende Sprache in den Massenmedien baut, obwohl das Land selbst eine der ältesten und am höchst entwickelten geschriebenen Sprachtraditionen der Welt besitzt. Der Volks-Radio-Sender von Tibet und das Fernsehen von Lhasa widmen den Großteil ihrer Sendezeit der Ausstrahlung von Sendungen in chinesischer Sprache.

In ähnlicher Weise kommen - wie Chinas Weißbuch feststellt - von den insgesamt "52 Zeitungen und Zeitschriften" in Tibet nur "14 Zeitschriften und 10 Zeitungen" auf Tibetisch heraus. Nicht so bekannt, aber trotzdem bemerkenswert ist, daß die Mehrheit der Berichte und Artikel in der tibetischsprachigen Ausgabe von Tibet Daily, der führenden Zeitung in Tibet, reine Übersetzungen der chinesischen Ausgabe vom vorhergehenden Tag sind.

Was den Anspruch betrifft, daß "6.600 Buchtitel" herausgegeben worden seien, weiß jedermann, daß kein einziges Buch veröffentlicht wurde, das von der offiziellen Linie der KP abweicht. Wenn irgendein Autor es wagen sollte, die offizielle Propaganda in Frage zu stellen, wird er/sie von seinem/ihrem Arbeitsplatz gefeuert und kommt wegen "konterrevolutionärer Propaganda" ins Gefängnis. Die Mehrheit der Veröffentlichungen in Tibet verachten die Perspektive, in welcher das tibetische Volk seine eigene Geschichte und Kultur sieht. Einige von ihnen ziehen offen die tibetische Geschichte, Kultur und überlieferte Weisheit ins Lächerliche. Ebenso wie die Nachrichtenmedien tragen auch die Buchverlage in Tibet nicht dazu bei, die Sache der tibetischen Kultur zu fördern. Sie dienen nur dazu, das tibetische Volk in Unwissenheit und unter dem Joch seiner kommunistischen Herren zu belassen.

Teil 8

Schluss

Es ist sinnlos, eindrucksvolle Statistiken zu veröffentlichen und mit ihnen aufzuwarten, nur um über die Zerstörung von Religion und Kultur in Tibet hinwegzutäuschen. Im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte hat China über 6.000 tibetische Tempel und Klöster zerstört und unbezahlbare Statuen und religiöse Kunstgegenstände geplündert und verkauft. 1,2 Mio. Tibeter sind in direkter Folge der chinesischen Besetzung Tibets umgekommen.

Kürzlich hat Peking einen "Entwicklungsplan für West-China" präsentiert, der den Zweck hat, die Naturschätze Tibets auszubeuten und die Einwanderung von chinesischen Siedlern nach Tibet zu beschleunigen. Diese Entwicklung stellt eine neue und noch größere Gefahr für die Auslöschung der einzigartigen Kultur und nationalen Identität Tibets dar.

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